An einem Donnerstag im Oktober ...

... dieses Jahres klingelte es unverhofft an meiner Tür. Am anderen Ende der Sprechanlage meldete sich eine Frau, die mich fragte, ob ich der Fotograf sei, der im Mai 2015 die Fotos während der Firmung in der Propsteikirche geschossen hätte. Ja, der sei ich, antwortete ich. Die Frau bat darum, kurz in meine Wohnung kommen zu können. Als sie vor meiner Wohnungstür erschien, fiel mir  ihre elegante schwarze Kleidung auf. Sofort fing sie an zu erzählen, und zwar hastig, fast atemlos und bruchstückhaft. Ich hatte Mühe, ihrer Geschichte zu folgen. Doch was ich davon verstehen konnte, zog mir fast die Schuhe aus. 

Die Frau zeigte mir Fotos ihrer Tochter, die beim Terroranschlag in Nizza am 14. Juli 2016 ums Leben kam. Nur kurz zur Erinnerung: Ein Mann fuhr mit einem LKW über die stark belebte Promenade Nizzas und tötete dabei über 80 Menschen. Der Attentäter konnte erst nach einem Schusswechsel von der Polizei gestoppt werden. 

Die Frau, die mir nun diese Geschichte erzählte, zeigte mir ihre WhatsApp-Unterhaltung mit ihrer Tochter. Und zwar genau den Moment, in dem keine Antwort mehr kam. Den Moment, wo keine weiße Sprechblase mehr auf der linken Seite erschien. Da ich selber WhatsApp nutze, konnte  die Ungewissheit und das aufkeimende Entsetzen förmlich spüren.

Ich erlebte eine Mutter, die verzweifelt war und die sich in Trauer um ihre Tochter befand. Die nun zu mir kam, weil ich im Mai 2015 die Firmung ihres Sohnes fotografiert hatte. Und bei dieser Feier war auch ihre inzwischen verstorbenen Tochter in der Propsteikirche zu Leipzig zugegen. 

Gemeinsam gingen die Frau und ich daran, die Fotos auf meinem Computer nach der Tochter zu durchforsten. Wir fanden ihren jüngsten Sohn, der gefirmt wurde, und den älteren Sohn, der der Firmpate des Jüngeren war und deshalb direkt hinter ihm stand. Wir fanden auch ein Foto der Mutter, die mit einer Videokamera die Firmung filmte. Aber von der Tochter fanden wir keines. Es gab lediglich ein Foto, auf welchem ein wenig von ihren dunklen Haaren zu sehen war. 

Nach fast zwei Stunden verließ mich die Frau wieder. Sie nahm alle Fotos, auf denen ihre beiden Söhne zu sehen waren, mit. Es tat mir leid, dass ich ihr nicht mehr geben konnte. 

Diese Geschichte hat leider kein Happy End. Ich konnte der Frau nicht helfen. Niemand kann ungeschehen machen, was in Nizza und inzwischen auch in Berlin passiert ist. Dennoch möchte ich diese Geschichte hier am Jahreswechsel erzählen. Denn mir hat sie gezeigt: Es ist nicht selbstverständlich, dass ich den Jahreswechsel unbeschwert mit Freunden verbringen kann. Ich hatte Glück, nicht an einem unheilvollen Ort gewesen zu sein. Ich hatte Glück, dass mich keine Krankheit ereilte. Ich hatte Glück, dass mir kein Unfall  widerfuhr. Ich hatte einfach Glück. Und dafür bin ich dankbar.

 

Ich wünsche allen ein gesundes, schönes, friedliches neues Jahr 2017.ich